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Freitag, 13. Dezember 2024
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    Stroh am Bau: so alt wie die Menschheit und plötzlich wieder modern

    Verden an der Aller ist eine bildhübsche Kleinstadt in Niedersachsen. 27 000 Einwohner, Straßen mit knuffigen alten Kleinhäusern und Pflastersteinen, die gelegentlich als Filmkulisse dienen, ein altehrwürdiges Landgerichtsgebäude und einmal im Jahr der „Dom“, die Kirmes, die zu den größeren ihrer Art in Deutschland zählt. Dass hier bauliche Experimente ihren Platz fänden, war bisher eher unbekannt. Und doch ist es so: Ein Verden steht seit 2015 ein Strohhaus, nicht irgendein kleines, sondern ein fünfstöckiges Bürogebäude. Wenn man es ganz genau nimmt, wurde es nicht nur aus Stroh, sondern auch aus Holz und Lehm gebaut, was seiner Exotik aber keinen Abbruch tut.

    Allerdings war und ist Verden auch die inoffizielle Hauptstadt der Pferdezucht, zumindest was die Hannoveraner Warmblutzucht angeht. Bis zu seinem Tod 1997 residierte in Verden der gern so titulierte „Pferdepapst“ Hans Joachim Köhler, ein Kenner ohnegleichen auf seinem Gebiet und sicherlich auch in allen Varianten von Stroh bewandert, denn ohne Stroh in seiner Stallbox kann und darf ein ordentliches Springpferd nicht sein.

    Man kann also mit Fug sagen: die Verbindung von Verden und Strohhaus war pferdesportlich vorgeprägt.

    „Strohballenbau“ nennt sich diese Technik. Zwar ist der Keller konventionell mit Ziegeln gemauert und schließt mit einer Betondecke ab. Doch darüber ist alles anders. Das tragende Gerüst des 17 Meter hohen Bürohauses mit 1800 Quadratmetern Nutzfläche bildet – ähnlich wie bei traditionellen Fachwerkhäusern – eine Holzkonstruktion aus mächtigen Ständern und Riegeln. Aus Holz bestehen auch die Decken zwischen den Geschossen, das Treppenhaus und der Fahrstuhlschacht. Die Innenwände wurden aus Holzständern konstruiert, verkleidet und mit Lehm verputzt. Die nichttragenden Teile der Außenwände dagegen bestehen aus gepresstem Stroh.

    Fünf Stockwerke Stroh, Holz und Lehm – sage noch einer, in Deutschland würde kein Wagnis mehr eingegangen, wenngleich mit einigem Rückstand gegenüber den europäischen Nachbarländern. Und, klar, die Baugenehmigung sei von gravierenden Bedenken begleitet gewesen, erinnert sich der Lüneburger Architekt Dirk Scharmer, der das 2015 fertiggestellte Strohhaus entworfen hat. Insbesondere in Sachen Brandschutz ­habe man hohe Auflagen erfüllen müssen. Loses Stroh ist leicht entflammbar. Doch presst man es zu Ballen, wird den Halmen durch den Druck die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten. Als Baustoff zugelassene Strohballen gelten deshalb als normalentflammbar.

    Verkleidet man Baustroh jedoch zusätzlich mit Kalk- oder Lehmputz, entspricht es, je nach Stärke der Putzschichten, der Feuerwiderstandsklasse F30 oder F90, erläutert Scharmer. Das bedeutet, dass ein aus strohgefüllten Holzständerwänden erbautes Gebäude einem Feuer mindestens 30 beziehungsweise 90 Minuten ohne zusammenzubrechen standhält, was genauso lange wie bei einem konventionellen Betonbau ist.

    Auf dem Gebiet des Strohballenbaus ist der Architekt ein alter Hase. Erste Erfahrungen mit dem Baustoff vom Getreidefeld sammelte er im Ökodorf Sieben Linden in der altmärkischen Gemeinde Beetzendorf in Sachsen-Anhalt. Die aktuell rund 150 Menschen umfassende Dorfgemeinschaft hat sich einem nachhaltigen Landleben verschrieben: Sie baut die meisten Lebensmittel selbst an, nutzt lokale, möglichst kompostierbare Rohstoffe und legt großen Wert auf Handarbeit.

    Prinzipien, die auch für den Hausbau gelten. 2004 errichtete die Dorfgemeinschaft in reiner Handarbeit und unter ausschließlicher Verwendung regional verfügbarer Baustoffe wie Holz, Lehm und Stroh sowie anderer ökologischer Materialien die Villa Strohbunt, ein zweigeschossiges Wohnhaus in Strohballenbauweise. Den technischen Ausbau, soweit nicht in ­Eigenarbeit machbar, übernahmen Handwerker aus der Umgebung.

    Bereits ein Jahr später wurde Strohpolis, ein von Dirk Scharmer geplantes, dreistöckiges Wohnhaus in verputzter Strohballenständerbauweise, fertiggestellt. Das damals größte Strohhaus Europas bietet auf 530 Quadratmetern Platz für rund 20 Bewohner. Von den heute 15 Gebäuden in Sieben Linden sind 13 mit Stroh gebaut – damit verfügt das Ökodorf über die weltweit höchste Dichte dieses Haustyps.

    Die Idee, aus Strohballen Häuser zu bauen, ist über 150 Jahre alt. Sie stammt von Bauern in Nebraska, einem US-Bundesstaat, in dem es kaum Wald gibt, dafür jedoch schier unendliche, wogende Getreidefelder. Der Mangel an Holz beförderte die Suche nach alternativen Baumaterialien und die Erfindung der Strohballenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wies den Weg. Mit Hilfe der Presse verwandelten sich Ernteabfälle in stabile ­Blöcke, die wie riesige Ziegel übereinandergeschichtet wurden. An die rustikalen Ursprünge des Strohballenbaus erinnert die heutige Bezeichnung „Nebraska-Style“ für die damals allgemein übliche, sogenannte lasttragende Bauweise, bei der die Strohballen sowohl die statische als auch wärmedämmende Funktion übernahmen. Die Kombination aus tragendem Holzständerwerk mit Stroh als Wand- und Dämmstoff entwickelte sich dagegen erst in den 30er Jahren, als man begann, zweigeschossige Strohballenhäuser zu errichten. Nach Angaben des Fachverbandes Strohballenbau Deutschland (FASBA) stehen heute in den USA rund 14 000 Strohhäuser.

    Auch Europa baut auf Stroh: Die Technik ist unter anderem in Polen, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden verbreitet. In der nordenglischen Stadt Leeds wurde 2014 eine Siedlung mit fünf dreistöckigen Wohnblocks und acht Reihenhäusern aus vorgefertigten Holzrahmen, Strohballenausfachung und Lehmputz fertiggestellt. „Europaweit hat allerdings Frankreich die Nase vorn“, sagt Dennis Harms, Architekt und FASBA-Vorstand. Dort stehen 5000 bis 6000 Strohbauten, schätzt er: „In Paris gibt es sogar Schulen und Kindergärten, die in Strohballenbauweise errichtet wurden.“ Deutschland hinkt da hinterher: Auf etwa 500 schätzt Harms die Zahl der Strohgebäude hierzulande, zumeist Ein- oder Zweifamilienhäuser.

    Es könnten deutlich mehr sein. Denn Stroh, ein Abfallprodukt der Getreideernte, ist überall dort im Überfluss verfügbar, wo Landwirtschaft betrieben wird. Ein Fünftel des Strohs, das nach einer durchschnittlichen Ernte in Deutschland übrigbleibt, reicht für den Bau von 350 000 Einfamilienhäusern, hat der FASBA errechnet. Ist Stroh somit ein Low-Tech-Baustoff, den Häuslebauer nur auf dem nächstgelegenen Acker aufzusammeln brauchen? Nicht ganz. Um als Baustoff zugelassen zu werden, müssen Strohhalme bestimmte Anforderungen erfüllen. „Sie sollten möglichst lang und unbeschädigt sein“, erläutert FASBA-Vorstand Harms. „Und zu Ballen gepresst, müssen sie eine Rohdichte von etwa 100 Kilogramm pro Kubikmeter aufweisen.“ Denn von der stoff­lichen Dichte des Baumaterials hängen bauphysikalische Eigenschaften wie Schallschutz- oder Wärmedämmqualität ab. „Am besten eignen sich Weizen und Roggen“, sagt Harms. „Hafer dagegen ist zu weich.“

    In Deutschland werden Strohballen meist in nichttragenden Konstruktionen verbaut, bei denen in aller Regel ein Holzständerwerk das Gewicht von Dach und Obergeschossen abfängt. Für Ein- oder Zwei­familienhäuser dieser Bauart eine Baugenehmigung zu bekommen, ist heute keine große Sache mehr. Trotzdem müssen potenzielle Bauherren einen größeren zeitlichen Vorlauf einplanen, denn anders als konventionelle Baumaterialien sind Strohballen nicht jederzeit verfügbar und auch nicht im Baumarkt um die Ecke zu haben. Man sollte sich also zeitig um einen Bauern bemühen, der das Stroh für den Hausbau in genügender Menge und Qualität zu Ballen presst, die Ballen prüfen und zertifizieren lassen und irgendwo trocken zwischenlagern, bis sie gebraucht werden: „Am besten mit Planen abgedeckt und in einer Scheune“, rät Dennis Harms.

    Denn Strohhäuser haben eine Achillesferse: „Stroh darf nicht nass werden, weder in der Bau- noch in der Nutzungsphase“, warnt Benjamin Krick, Architekt am Darmstädter Passivhausinstitut, der über Stroh als Baustoff promoviert hat. „Sonst schimmelt es.“ Als Schutz gegen aufsteigende Bodenfeuchte und heftige Regengüsse brauchen Strohhäuser sozusagen hohe Stiefel und einen breitkrempigen Hut; also ein Fundament mit Feuchtigkeitssperre und ein Dach mit weitem Überstand. Die Wetterseite sollte zusätzlich mit einer Verschalung geschützt werden, empfiehlt Architekt Krick, der selbst in einem Strohhaus wohnt.

    Mit Materialkosten von etwa vier Euro pro Ballen ist Stroh ein äußerst günstiger Baustoff. Doch wer hofft, mit einem Strohhaus Geld sparen zu können, ist auf dem Holzweg, erläutert der Architekt: „Um Baustroh in die Wände zu bekommen, ist weit mehr Hand­arbeit nötig als beim Aufbringen eines Wärmedämm-Verbundsystems.“ Dieser Mehraufwand frisst die Kostenvorteile wieder auf. Allerdings ist Stroh ein Werkstoff, der sich auch von Laien gut verarbeiten lässt. Die dazu nötigen Fertigkeiten sind unter fachkundiger Anleitung schnell zu erlernen. Das Do-it-yourself-Prinzip ist im Strohballenbau viel geübte Praxis – nicht nur weil es Kosten spart, sondern auch weil es Spaß macht, mit Familie und Freunden ein Haus zu bauen.

    Sobald das Holzständerwerk steht und das Dach gedeckt ist, kann es losgehen. Schweres Gerät ist unnötig; alles was gebraucht wird, sind Handkreissäge, Akku-Schrauber und viele helfende Hände. Selbst Kinder können anpacken. Mit Fausthieben, kräftigen Tritten und schweren Holzhämmern wird das Stroh ins Fachwerk getrieben und sorgfältig in jede noch so kleine Öffnung gepresst.

    Auf Strohbaustellen gibt es weder Motorenlärm noch Dieselschwaden, die Arbeit wird begleitet von Vogelgezwitscher und einem feinen Duft nach Scheune. Sitzt das Stroh fest im Fachwerk, rückt die Putzkolonne an. Außen trägt man Kalkputz auf; innen Lehmputz in drei Lagen: „Zunächst eine fette Lehmschlemme als Haftgrund, darauf einen Grobputz und schließlich den Feinputz“, erläutert Benjamin Krick. Beim Verputzen sei handwerkliches Geschick gefragt, insbesondere die Übergänge zum Fachwerk müssten sorgfältig ausgeführt werden. Wer sich das nicht zutraut, sollte die Dienste einer Fachfirma in Anspruch nehmen. Das empfiehlt sich auch für Heizungs-, Sanitär- und Elektroarbeiten. Machen die Fremdfirmen keinen Strich durch die Rechnung, ist ein auf diese Weise gebautes 150-Quadratmeter-Haus in nur sechs Monaten bezugsfertig.

    Strohhausbewohner schwärmen einhellig von ­einem behaglicheren und gesünderen Wohnklima. Zudem müsse kaum geheizt werden, da das natürliche Material wesentlich besser isoliere als herkömmliche Dämmstoffe. Da könnte etwas dran sein, bestätigt Marc Klatecki, der an der Universität Kassel den Baustoff Stroh erforscht hat. Mit lehmverputzten Strohwänden sei es problemlos möglich, die Kriterien des Passivhausstandards zu erfüllen. Als Passivhaus ist ein Gebäude definiert, das höchstens 15 Kilowattstunden (kWh) Heizwärme pro Quadratmeter und Jahr benötigt. Zum Vergleich: Dieser Wert liegt momentan deutschlandweit bei durchschnittlich ­­160 Kilowattstunden.

    Hinzu kommt eine ganze Handvoll raumklimatischer Qualitäten, die insbesondere in Verbindung mit Lehmputz ihre Wirkung entfalten: „Während Stroh die Wände warmhält, nimmt Lehm überschüssige Luftfeuchtigkeit auf und gibt sie nach und nach wieder ab“, führt der Bauphysiker aus. „Dadurch ist die Luftfeuchte im Raum immer perfekt ausbalanciert.“ Zudem neutralisiere Lehm in der Luft schwebende Geruchsstoffe.

    Neben dem Wohnklima ist der Baustoff aus Getreidehalmen auch dem Weltklima zuträglich. Denn Stroh ist klimaneutral, wächst jedes Jahr nach und für seine Transformation zum Baustoff wird lediglich etwas Dieseltreibstoff für Traktor und Ballenpresse benötigt. Zudem wird Stroh pur verbaut: Die einzigen Zusatzstoffe, die ein Strohballen enthält, sind die Schnüre, mit denen er gebunden wird. Das mutet archaisch an, ist aber im Vergleich zu herkömmlichen Baustoffen wie Stahl oder Beton, die unter höchstem Einsatz von Energie und Ressourcen hergestellt werden, äußerst umweltfreundlich.

    Und wie lange halten Strohhäuser? Das Haus Burke in der Kleinstadt Alliance in Nebraska, das älteste selbsttragende Strohballenhaus der Welt, steht seit 1903. Das Haus Feuillette im französischen Montargis, ein zwei­stöckiger Fachwerkbau mit Strohballenausfachung, wurde 1921 fertiggestellt und ist bis heute bewohnt. „Es gibt kein Verfallsdatum“, sagt Architekt Dirk Scharmer. „In den USA habe ich über 100 Jahre alte, völlig intakte Strohwände gesehen, deren Halme noch immer goldgelb waren.“

    Und anders als bei konventionellen Steinbauten, von denen am Ende ihrer Lebenszeit ein Haufen Schutt bleibt, der fachgerecht entsorgt werden muss, fügt sich ein Strohhaus, sollte es tatsächlich eines ­Tages baufällig werden, nahtlos in den natürlichen Kreislauf. Man kann es problemlos im Garten kompostieren.

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